"Endlich einmal eine Langstrecke, bei der man ausschlafen kann.",
dachte ich mir, als ich mich am Vorabend gegen 24:00 Uhr ins
Bett begab. Ray, der mit mir nach Bad Goisern gekommen war,
hat da nicht so viel Glück. Er hat sich für die Lang-Distanz
(200 km / 7.200 hm) entschieden und musste bereits um 5:00 Uhr
starten, also lange vor mir aufstehen.
Für das, dass wir erst gegen 18:00 Uhr in Bad Goisern ankamen,
unsere Unterkunft suchten, mit der Wirtin diskutierten um das
Bike mit aufs Zimmer nehmen zu dürfen, zur Pasta-Party gerannt
sind, die Streckenpräsentation mitgenommen haben und dann ab
ins Bett gegangen sind - war das dann doch recht früh. Noch
ein Wort zur Pasta. Ein Marathon ist ab irgend einem Punkt eine
reine Kopfsache. Das ist Allgemeinwissen. Man muss abschalten,
ertragen und leiden können. Letzteres fängt in Bad Goisern schon
mit der Pasta an. Das war das Miserabelste was ich jemals vor
mir auf einem Teller hatte. Nach ein paar verzweifelten Ansätzen
habe ich dann gekniffen. Bewundernswert, die Leidensfähigkeit
mancher Menschen und erschreckend mit wie wenig Talent so mancher
kochen darf. Aber der Rest der Veranstaltung ist einfach spitze!
Zurück zum Thema. Ich habe also die Chance genutzt, habe länger
geschlafen als sonst bei Marathon Veranstaltungen, konnte ausgiebiger
- und vor allen Dingen mit mehr zeitlichem Abstand zum Rennen
- frühstücken, und begab mich mit viel Vorlauf zum Startplatz.
Wie im Jahr zuvor bei der Grand Raid Cristalp habe ich beschlossen
Gewicht zu sparen und nur das mitzunehmen, was ich wirklich
brauche und das war alles, was in meinen Trikot-Taschen Platz
fand (Armlinge, dünne Windjacke, Gel, Riegel, Ersatzschlauch,
Reifenheber, Kartuschen, Pumpe). Ansonsten keine Regenjacke,
kein Trinkrucksack, sondern nur eine Trinkflasche. Das ist bei
mir eine Frage des Vertrauens, der persönlichen Einschätzung
und der Risikobereitschaft. Spätestens nach diesem Rennen bin
ich mir aber absolut sicher, dass ich nicht mehr brauche.
Fest vorgenommen habe ich mir auf jeden Fall regelmässig ein
Gel oder einen Riegel zu essen. Ich will nicht vorgreifen. Aber
mehr als fünf Gels habe ich auch dieses Mal nicht geschafft.
Warum machen die nichts, das nach Leberwurstbrot oder Käsesemmeln
schmeckt?
Der erste Startblock peilte eine Zeit von unter 6:30 Stunden
an. Nichts für mich. Auch wenn der Eine oder Andere der Meinung
ist, dass ich mich gerne selbst überschätze, so bin ich der
Meinung, dass ich mein Leistungsvermögen schon ziemlich gut
abschätzen kann. 6:30 Stunden für mich, unmöglich! Daher reihe
ich mich in den 2. Startblock ein. Rentner, Schulmädchen, Greise.
Leute mit Rückenbeschwerden, Bandscheibenvorfälle und Untrainierte,
Übergewichtige und Hobby-Radler alles in einem Pulk und ich
mitten drin. Hier fühl ich mich wohl.
Pünktlich um 10:05 Uhr war der Startschuss und los ging es erst
einmal durch Bad Goisern auf den ersten Anstieg. Nicht sehr
anspruchsvoll, keine wirkliche Rampe, breiter geschotterter
Waldweg. Das Feld war noch eng zusammen, als mich nach ca. 35
Minuten ein völlig verdreckter Fahrer überholte. Ich dachte
mir nur, für den ist der Start wohl nicht sehr gut verlaufen,
der ist sicherlich die Böschung und in den unten verlaufenden
Bach gestürzt. Kurve nicht bekommen? Etwas übermütig der Kleine!
Kaum hatte ich das so vor mich hin philosophiert - man macht
sich ja so seine Gedanken (zu etwas anderem kommt man ja auch
nicht während einem Marathon) - ist mir schlagartig bewusst
geworden, dass es sich hier um einen Fahrer der 200 km-Distanz
handelt. Wahnsinn! Nach weniger als 5:30 Minuten die ersten
100 km hinter sich gelassen. Unglaubliche Leistung. Fetten Respekt
(Übrigens an alle die das gefinisht haben!). Da erscheint das
eigene Vorhaben (100 km/3.600 hm) so lächerlich und unwichtig.
Als es dann in die erste Abfahrt ging konnte ich mir bereits
ein Bild davon machen, was hier auf uns zukommt. Die Abfahrten
sind alles andere als eine Erholung. Schmale, matschige und
verblockte Trails, auf denen ich zumindest keine Geschwindigkeit
gut mache - sondern froh sein muss, wenn ich da ohne Sturz runter
komme. Hier und da gibt es natürlich auch Schotter. Aber das
ist alles gut durchmischt. Auf der 2. Abfahrt hatte ich dann
mächtig Glück. Ich bin ein wenig übermütig und zu schnell in
einen Trail gefahren - einem Trail, den ich unter normalen Bedingungen
wahrscheinlich gelaufen wäre. In Anbetracht der plötzlichen
Zuschauermengen hätte ich aber gewarnt sein müssen. Die Biker
vor mir haben wohl rechtzeitig gemerkt auf was sie sich hier
einlassen und sind abgestiegen. Bei mir gab es aber nur noch
eins: Geschwindigkeit bringt Sicherheit (den Spruch von Manfred
Stromberg [Bikeride] werde ich nie vergessen - wobei ich der
Meinung bin, dass man nicht sicherer wird, sondern die Gefahr
nur schneller hinter sich lässt) und runter. Die zahlreichen
Zuschauer habe ich nur noch schemenhaft bemerkt - aber der Applaus
war meiner! (muss so gewesen sein, denn ich war zu diesem Zeitpunkt
der einzige, der hier gefahren ist.). Ich beschlagnahme ihn
einfach! (Wer Ansprüche geltend machen will soll sich bei mir
melden.)
Die Verpflegungsstationen waren überall dort wo man sie brauchte;
also ca. alle 15-20 km. Das sorgte dafür, dass ich niemals mit
"Wasserknappheit" (eine meiner größten Sorgen bei Langstrecken
- ich bin ein "Viel-Drinker") zu rechnen hatte. Ansonsten waren
die Stände absolut hinreichend gefüllt. Besonders begeistert
war ich von dem herzhaften Angebot (Laugenstangen, belegte Brote,
Suppe). Das ist das, was ich nach dem süßen Gel-Riegel-Bananen-Kram
einfach brauche.
Jeder hat ja so seine eigene Strategie um a) die Strecken und
b) die Zeiten bei einem Marathon zu überstehen. Meine habe ich
"Karotten"-Strategie genannt. Das Bild mit dem Esel, dem man
eine Karotte vor die Nase hält, damit er läuft kennt ja jeder.
Also, suche ich mir eine Karotte, der ich nachfahren kann. Das
mag ja jetzt sexistisch klingen, aber ich suche mir gerne eine
Frau, der ich nachfahre (in Lycra gehüllte Männer-Hintern finde
ich nicht so wirkungsvoll). Nicht dass ich mich nun irgendwelchen
Vorstellungen hingebe, nein, dafür habe ich bei einem Marathon
keinen Kopf, aber es ist etwas, auf das man sich konzentrieren
kann.
Auf einer der Abfahrten habe ich meine "Karotte" überholt -
ein riesen Fehler, wie sich wenig später herausstellt. Aber,
es lief einfach zu gut und ich bin mit einem irrsinnigen Tempo
auf einer kurzen Rampe, mit viel zu großer Übersetzung an ihr
vorbei gestochen. Und was macht sie? Sie klemmt sich hinter
mich! Die spinnt! (Aus dem Esel wird plötzlich selbst eine Karotte.)
Da wird man an der Ehre gepackt. Also nicht nachlassen. Das
Luder hängt in meinem Windschatten. Das kenne ich eigentlich
nicht. Wenn ich jemanden vom Rad fahren will gelingt mir das
in aller Regel auch. Hier aber nicht. Das Luder bleibt dran.
Jetzt in den Gegenhang. Mal sehen, wie lange meine "Karotte"
noch am Hinterrad lutscht. Ich bewege mich mit meiner Herzfrequenz
weit über meinem Plan. Das kann nicht gut gehen. Nach ca. 25
Minuten fahren wir an einer Gruppe Zuschauer vorbei, die kräftig
anfeuern. Aus dieser Gruppe kommt dann mein Todesstoss. "Katrin,
den packst Du!". Das hat gewirkt. Da ich bereits die ganze Zeit
an meinem Limit fuhr, hatte ich den Attacken meiner "Karotte",
deren Namen ich hier geändert habe, nichts entgegenzusetzen.
Deprimierend. Katrin schob sich cm. für cm. an mir vorbei. Was
soll's, wir werden ja ohnehin nicht gemeinsam gewertet. Und
weg.
Egal. Weiter geht's. Irgendwie macht sich die Ruppigkeit des
Geländes so langsam bemerkbar. Größere Strecken, auf denen man
regenerieren kann gibt es nicht und die Beine werden langsam
schwer. Nein, sie fangen an zu brennen. Deutlich wird das bei
den Abfahrten. Aktiv fahren nennt sich das wohl. Von Aktivität
strotzt das bei mir zwischenzeitlich aber nicht mehr. Ich bin
jedes Mal froh, wenn ich unten angekommen bin, endlich wieder
sitze und hoch fahren kann. Aber die Freude hält nicht lange
an. Da ist es wieder, das Brennen. Ich stelle mich darauf ein,
dass es bis ins Ziel auch nicht mehr aufhören wird - wie auch!
An eins, zwei Stellen macht sich mein Techniktraining mit Fréd
bezahlt. Stellen die ich vorher - aus mangelndem Wissen und
Technik - niemals gefahren wäre. Heute klappts. An einer engen
Kehre stehen wieder Zuschauer - hierher verirrt man sich nicht,
sondern hier kommt man her weil man spektakuläres sehen will.
Vor mir wird reihenweise abgestiegen. Rädchen herum gehoben,
abgesetzt und wieder weitergefahren. Ich denke mir nur Die wollen
etwas sehen. Also biete ihnen etwas. Entweder in Form eines
sensationellen Sturzes oder indem du da durch fährst, wo die
meisten absteigen. Also Kurve weit anfahren dann zum engsten
Punkt und in dem Moment, in dem das Vorderrad die FallLinien
durchfahren ist, Hinterrad blockieren und driften. Es hat geklappt!
Macht richtig Spass! Wenn ich jetzt auch noch den richtigen
Gang eingelegt hätte, hätte ich auch noch aus der Kurve heraus
beschleunigen können. Na ja, beim nächsten Mal.
Eine andere Stelle war in einer Ortsdurchfahrt. Hier ging es
eine Treppe hinunter. Ich hasse Treppen. Aber auch hier wieder
Unmengen an Zuschauer. Das pusht! Also fahren. Völliger Blödsinn.
Vor mir ein Sturz. Ich habe nicht wirklich Platz zum reagieren.
Anhalten ist auch nicht möglich a) bin ich zu schnell und b)
war nicht genügend Abstand. Also an der Hauswand vorbeigeschrammt
(Arm und Trikot danken es). Und dann auch noch eine Kehre. Die
spinnen, die Organisatoren ;-). Aber geschafft.
Noch einen Anstieg. Der Letzte für den heutigen Tag. Ich fahre
an einem Wiener vorbei. Man kommt ins Gespräch. Unterhaltung
ist das ja keine, es ist vielmehr ein synchrones keuchen und
schnaufen, in das der jeweils Andere das hineininterpretiert,
was er hören will. So weiß ich jetzt, dass er eigentlich Claudia
heißt, aus Wien stammt, sich an der kommenden Verpflegungsstation
eine Pizza bestellt und nur mitmacht weil er sich an den Labstationen
zulaufen lassen kann und im übrigen sein Bike selbst geschnitzt
hat. Ich halluziniere. Das muss mein Hunger sein. Plötzlich
steigt er ab - und schiebt. So ist das halt bei Männern mit
Frauennamen.
Hart war dann die letzte Abfahrt. Ein ca. 2-3 km Trail, der
in meinen Augen unfahrbar war bzw. ist. Nicht nur in Meinen,
denn alle um mich herum steigen ab schieben. Zu gerne hätte
ich hier jemand fahren sehen. Den Streckenposten habe ich gefragt.
Es muss tatsächlich Biker gegeben haben, die da hinunter fuhren.
Wahnsinn! Das hätte ich zu gerne gesehen. Ein weiterer Streckenposten
fügte hinzu, dass auch mindestens genauso viele gestürzt seien.
Das glaube ich gerne!
Nach dieser Abfahrt kam noch ein ca. 7 km langes Flachstück.
Wie lange 7 km sein können, weiß ich seit Bad Goisern. Ganz
was Feines. Nach ca. 93 km noch einen Sprint hinzulegen ist
einfach etwas nettes, zumal sich auch hier wieder einige Nasen
in meinen Windschatten hängten. Warum immer ich? Wo ist denn
der, dem ich nachfahren kann? Jetzt bin ich jemand, der dem
Pulk stets hinterher fährt. Meine Platzierung im letzten Viertel
macht das ja auch deutlich. Ich bin langsam, alt und träge.
Aber an solchen Stellen habe ich immer die A-Karte. Dieses Mal
ist es mir aber geglückt, die Hintermänner vom Rad zu fahren.
Nachdem ich 2-3 mal das Tempo verschärft habe, war ich dann
alleine und konnte auf der Zielgeraden mit Tempo 35 noch an
einigen Konkurrenten vorbeiziehen und nach 7 Stunden und 52
Minuten (oder waren es 53 Minuten, egal) Auf jeden Fall unter
8 Stunden finishen.
Hat ja gar nicht weh getan!
Im Ziel habe ich Claudia wieder getroffen. Er heißt gar nicht
Claudia. Eine Pizza hat er sich auch nicht bestellt und das
mit dem Zulaufen lassen habe ich auch falsch verstanden. Aber
das mit Wien, das hat gestimmt.
Ray kam nach knapp 16 Stunden um 21:00 Uhr ins Ziel. Fertig,
kaputt, erschöpft aber ich denke, so mit Endorphin voll gepumpt,
dass er seinen körperlichen Zustand gar nicht wahrgenommen hat.
Er war high!
Duschen, Bikes verstauen, und ab nach Hause, ca. 580 km lagen
dann noch vor uns und um ca. 4:30 Uhr lag ich dann endlich in
meinem Bett. Müde, glücklich, und um ein neues Abenteuer reicher.
Andreas Bader
|